Die Presse aller Länder ist viel zu beschäftigt, die Position ihres eigenen Staates in dem Nahost-Konflikt zu verstehen, als dass sie die globalen Verhandlungen zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml zur Kenntnis nehmen könnte [1] und interpretiert daher die zweitrangigen Ereignisse falsch. Um das aktuelle diplomatische Hin und Her zu klären, müssen wir uns die Vereinbarung zwischen USA und Russland vom letzten September in Erinnerung rufen.
Der öffentliche Teil dieser Vereinbarung wurde von Russland formuliert und in einem Dokument am 29. September im UN-Sicherheitsrat ausgeteilt [2]. Es weist darauf hin, dass es für die Wiederherstellung von Frieden und Stabilität in Nordafrika und im Nahen Osten notwendig und hinreichend sei (1) die Resolutionen des Sicherheitsrats zu implementieren – was insbesondere den Rückzugs von Israel auf die Grenzen von 1967 beinhaltetet – und (2) gegen die terroristische Ideologie zu kämpfen – d.h. sowohl gegen die von Großbritannien geschaffene und von der Türkei unterstützte Muslimbruderschaft, als auch gegen den von Saudi-Arabien verbreiteten Wahhabismus .
Ursprünglich war geplant, dass Russland in der Sitzung vom 30. September im Sicherheitsrat zu diesem Zweck eine Resolution verabschieden sollte. Die USA waren aber im letzten Moment dagegen [3]. Sergej Lawrow hat dann den Vorsitz der Sitzung übernommen, ohne sein Projekt zu erwähnen. Dieses wichtige Ereignis darf also nur als taktische Meinungsverschiedenheit interpretiert werden, welches ein strategisches Abkommen nicht beeinträchtigen sollte.
Am 20. Oktober empfing Präsident Vladimir Putin im Kreml seinen syrischen Amtskollegen Baschar Al-Assad in Anwesenheit seiner Minister für Verteidigung und Auswärtige Angelegenheiten, des Generalsekretärs des russischen nationalen Sicherheitsrates und des Leiters des Geheimdienstes. Die Diskussion konzentrierte sich auf die Umsetzung des russisch-amerikanischen Plans, einschließlich der Umsetzung des Genfer Kommuniqués vom 30. Juni 2012 [4]. Präsident Al-Assad erläuterte, dass er nach den Anweisungen dieses Kommuniqués handle und dass er insbesondere jene Oppositionsparteien integriert habe, die eine Antrag dazu gestellt hätten, wie es das Kommuniqué von einem Organ einer Übergangs-Regierung verlangt.
Nachdem Russland und die Vereinigten Staaten sichergestellt hatten, dass beide Länder das Genfer Kommuniqués auf gleiche Weise interpretierten, beschlossen sie, die Abweichler-Staaten Frankreich, die Türkei und Saudi-Arabien auf Linie zu bringen. Da sie wussten, dass die französische Haltung nicht auf realistischen Grundlagen basiert, sondern sich ausschließlich aus Kolonialträumen seiner mit türkischem und Saudi-Geld korrumpierten Regierung erklärt [5], beschlossen das Weiße Haus und der Kreml, nur die Ursache des Problems zu behandeln, nämlich die Türkei und Saudi-Arabien. John Kerry und Sergej Lawrow empfingen daher am 23. Oktober die türkischen und saudischen Amtskollegen in Wien. Keine endgültige Erklärung wurde veröffentlicht. Es scheint jedoch, dass Russland den beiden Gästen gedroht habe, ohne dass die USA sie beschützt hätten.
Durch ein mögliches russisch-amerikanisches Einverständnis gegen die Türkei und Saudi-Arabien in Panik versetzt, berief Frankreich dann ein “Arbeitsessen” (anstelle eines “diplomatischen Gipfel”) in Paris ein. Deutschland, Saudi Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, die Vereinigten Staaten, Italien, Jordanien, Katar, Großbritannien und die Türkei “beschwörten” aber “beschlossen” nicht das Schicksal Syriens. Das Format dieses Treffens entspricht der Kerngruppe der “Freunde von Syrien”, mit Ausnahme von Ägypten, das bereits heimlich dem Lager von Syrien beigetreten ist. Die Tatsache, dass man gezwungen war, die Vereinigten Staaten einzuladen, hat das Treffen schwierig gemacht. Auch hier gab es keinen endgültigen Text.
Schließlich versammelten die USA und die Russland am 30. Oktober ein größeres Gremium, bestehend aus allen Teilnehmern der zwei vorangegangenen Sitzungen, plus Ägypten, China, Irak, Iran, Libanon, Oman, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen. Während die Presse über die Anwesenheit des Irans, der seit Beginn des Konflikts von jeglicher Lösung ferngehalten worden war, ausgiebig berichtete, gab es keinen Kommentar zur Rückkehr von Ägyptens Marschall al-Sissi, der durch Frankreich ausgeschlossen wurde und welcher Dank der Entdeckung neuer Ölreserven auf die internationale Bühne zurückgekehrt ist; die Presse erwähnte auch nicht die dauernde Abwesenheit der wichtigsten Regionalmacht Israel. Dieser letzte Punkt kann nur dadurch erklärt werden, dass der jüdische Staat zuvor eine Garantie erhalten hat, um eines seiner Kriegsziele zu erreichen, und zwar die Schaffung eines Kolonialstaates im nördlichen Syrien.
Alle Teilnehmer wurden gebeten, eine endgültige Erklärung zu unterschreiben, welche nur die Russen und die Iraner verteilten [6]. Und aus gutem Grund: sie kennzeichnet die Niederlage der US-Falken. In der Tat wird in Absatz 8 der Erklärung darauf hingewiesen, dass der “politische Prozess”- und nicht der “Übergangsprozess” – von den Syrern, als Eigentümer Syriens durchgeführt wird und dass das syrische Volk über die Zukunft Syriens entscheidet [7]. Diese harte Formulierung macht dasFeltman-Dokument zunichte, welches seit mehr als drei Jahren das Ziel der US-Falken, der Franzosen, der Türken und der Saudis ist: die vollständige und bedingungslose Kapitulation der Syrisch-Arabischen Republik [8].
Der US-Entwurf geht trotz des Abkommens mit Russland weiter
Die Folge der Ereignisse sollte daher logischerweise die Zügelung der Türkei, Saudi Arabiens und Frankreichs sein, die trotz der Verfolgung der ursprünglichen US-Ziele eintreten könnte.
Was die Türkei betrifft – und unabhängig vom Ergebnis der Wahlen vom 1. November 2015 und vor allem aber bei einem Sieg der AKP [9] – dürfte der Bürgerkrieg weitergehen und sich ausweiten [10] bis zur Teilung des Landes in zwei Teile; dann dürfte es zur Fusion des türkischen Kurdistan, des irakischen Kurdistan und eines syrischen arabischen Territoriums kommen, das durch die syrischen Kurden und die Vereinigten Staaten besetzt wird. Schon jetzt erobern die YPG und die Vereinigten Staaten gemeinsam ein arabisches Territorium im nördlichen Syrien. Die YPG, die bis zum letzten Monat ihre Waffen und Löhne von Damaskus bekam, hat sich gegen die Arabische Republik Syrien gewendet. Ihre Milizen dringen in eroberte Dörfer ein, vertreiben die Lehrer und erklären per Dekret die erzwungene Kurdisierung der Schulen. Kurdisch, das gesprochen und in der Schule gelehrt wurde, wird einzige Amtssprache. Die Milizen der Arabischen Republik Syrien, einschließlich der Assyrer, sind gezwungen ihre Schulen mit Waffen gegen ihre kurdischen Landsleute zu verteidigen [11].
König Salman von Saudi-Arabien muss seinerseits seine Niederlage im Jemen verkraften; ein Nachbar, in den er offiziell eingefallen war, um einen auf Flucht befindlichen Präsidenten zu unterstützen, in Wirklichkeit aber, um mit Israel das Öl aus dem “leeren Viertel“ [12] auszubeuten. Einer nach dem anderen, zogen sich die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten aus der Koalition zurück.
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff
Während schlechte Verlierer ohne mit der Wimper zu zucken bekanntgeben, dass Russlands militärische Intervention in Syrien nicht die von Moskau erwarteten Ergebnisse liefern würde, ziehen sich die auf der Flucht befindlichen Dschihadisten in den Irak und in die Türkei zurück. Der US-Stabschef General Joseph Dunford gab am 27. Oktober während einer Anhörung im Senat zu, dass von nun an die Waffen zugunsten der Arabischen Republik Syrien sprechen [14]. Dagegen sagte der Oberbefehlshaber der NATO General Philip Breedlove am 30. Oktober auf einer Pressekonferenz im Pentagon, es sei übertrieben, zu sagen, dass sich die Situation von Tag zu Tag verändere und nun die Sicherheit Europas bedroht sei [15].
Es ist klar, dass das Bündnis zwischen den Anhängern des Chaos und den der Wiederkolonisierung nicht nur in Syrien an Bedeutung verliert, sondern dass auch das Atlantische Bündnis selbst keine globale Dominanz mehr beanspruchen kann. Plötzlich erfasst eine allgemeine Aufregung die Stätten der Macht; viele sagen, dass es Zeit sei für Frieden – was bedeutet, dass sie bis jetzt anders dachten.
Die „Kehrtwende“, die sich gegenüber Syrien ankündigt, wird als erste Folge die Wiedereinsetzung der internationalen Rolle der Islamischen Republik Iran und der Russischen Föderation mit sich bringen; zwei Akteure, welche die westliche Presse vor vier Monaten noch als völlig isoliert beschrieb und zu schrecklichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verurteilt hatte; zwei Mächte, die nun militärisch eine erste Geige spielen; der Iran als Regionalmacht und Russland auf der globalen Ebene; der zweite Gesichtspunkt ist der, dass Präsident Al-Assad an der Macht bleibt, über dem seit fünf Jahren verkündet wird, er müsse gehen.
In diesem Zusammenhang geht die Kriegspropaganda unbeirrbar weiter. Man behauptet, dass die russischen und syrischen Bombardierungen Zivilisten töten würden; dies sind Beschuldigungen, die von der Zentralorganisation der Terroristen, nämlich der Muslimbruderschaft, über ihre Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in die Welt gesetzt werden. Oder man behauptet, dass Russland unter Druck stehe, schnell zu verhandeln, weil seine Intervention teuer sei – so als ob es sie nicht während ihrer langen Vorbereitung budgetiert hätte -. Nie um eine Erfindung verlegen, behauptet der Direktor der CIA, John Brennan, dass Russland sich vorbereite, Präsident Assad fallen zu lassen, obwohl Präsident Putin sich selbst über diese autosuggestive Prophezeiung wenige Tage zuvor im Valdai-Club lustig gemacht hat.
In Frankreich erreicht die Revolte die politische Klasse. Die vier Hauptführer des rechten Spektrums, Dominique de Villepin, François Fillon, Alain Juppé und Nicolas Sarkozy haben jeweils erklärt, es sei absurd, sich Russland zu entfremden und sich zu weigern, die Niederlage in Syrien anzuerkennen. Alain Juppé jedoch, der eine zentrale Rolle am Anfang des Krieges spielte, besonders mit der Unterzeichnung eines geheimen Vertrags mit der Türkei, hält jedoch weiterhin am Ziel fest, die Arabische Republik Syrien später zu stürzen. Bei den Linken planen mehrere Verantwortliche künftige Reisen nach Damaskus.
Die Panik vor den vorhersehbaren Änderungen ist in der Tat allgemein verbreitet. Nicolas Sarkozy beeilte sich, Präsident Putin aufzusuchen, wie es auch der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel tat[16]. Er plädierte dafür, die vergangenen Streitigkeiten zu vergessen und den Dialog mit der Russischen Föderation erneut aufnehmen. Es war höchste Zeit.
Wichtige Punkte :
Die Wiener Erklärung vom 30. Oktober 2015 ändert das Genf-Kommuniqué vom 30. Juni 2012. Es wird keinen “Übergangsprozess” in Syrien geben, weil die Syrische Arabische Republik den Krieg gewonnen hat, sondern einen “politischen Vorgang” unter Kontrolle der Wahlurne.
Der Krieg sollte in den nächsten Monaten in Syrien enden, außer im Norden, wo die Vereinigten Staaten und Israel versuchen, einen unabhängigen von Kurden dominierten Kolonialstaat zu schaffen.
Neue Kriege sind in Vorbereitung, zunächst rund um ein Pseudo-Kurdistan, das nicht-kurdischen kolonisierten Menschen auferlegt wird, dann in der Türkei und in Saudi-Arabien, um diese großen Staaten in mehrere kleine Staaten zu teilen, gemäß dem Plan des “Umbaus des erweiterten Nahen Osten” von 2001. Washington wird nicht zögern, seine eigenen ungehorsamen Verbündeten zu vernichten, während Moskau der Muslimbruderschaft und dem Wahhabismus ein Ende setzen will.
Die Opposition in Frankreich und die ganze herrschende Klasse in Deutschland haben den Aufstieg der Russischen Föderation und des Iran und den baldigen Sturz der Türkei und von Saudi-Arabien zur Kenntnis genommen. Sie versuchen jetzt ihre Politik zu ändern.
Übersetzung
Horst Frohlich
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